Russland im Hintergrund

 

Bis zum 24. Februar 2022 war die NATO nur ein politischer Begriff für mich. Vier Buchstaben, mit denen ich groß geworden bin. Sie tauchten vereinzelt in den Nachrichten auf und brachten sich damit immer mal wieder in meinem Bewusstsein in Stellung. Meine Erinnerungen mit dem Kalten Krieg waren ganz angenehm in einer Schublade von damals verstaut. Die NATO. Eine Selbstverständlichkeit und in ihrer Existenz für mich persönlich eher konsequenzlos. 

 
 

In den Tagen nach Kriegsbeginn in der Ukraine wurde mir klar, dass ich mich verschätzt hatte. Der Kalte Krieg zwar schon lange her, aber die NATO immer noch in Funktion und keineswegs nur ein politischer Begriff. Und für mich schwer zu ertragen, funktioniert sie vor allem über das Demonstrieren von militärischer Stärke, durch rhetorische Strenge (wenn auch sachlich) und mit dem stetigen Hinweis auf die gezogenen Grenzen. Schwer zu ertragen für mich, nicht weil ich dagegen wäre, sondern eher, weil ich durch Schlüsselsätze wie „jeden Zentimeter verteidigen“ oder „NATO-Ostflanke stärken“ Probleme beim Atmen bekomme.

 
 
 
 

Irgendwann in den Tagen, in denen ich bei dem Ritt durch die Medien und deren Schlagzeilen versucht habe zu verstehen, was da passiert und mich mit den neuen/alten Bedrohungen konfrontiert sah, ist mir ein Onlineartikel über eine der wenigen NATO-Russland Grenzen, im hohen Norden Norwegens, mit dem gezwungen humorvollem Titel „Nicht Richtung Russland pinkeln“ ins Auge gefallen. Eine Grenze, bei der auf der einen Seite meine mir innewohnenden Werte und ein westlich demokratisches Selbstverständnis herrschen und auf der anderen Seite, eine Melange aus: „de facto Autokratie mit despotischen Zügen“ (Zitat Wikipedia), einem Kapitalismus, welcher eher als institutionalisierter Diebstahl ein paar weniger zu verstehen ist und diesem Mythos von Mütterchen Russland, der eine romantische Assoziation von Kälte, Härte und rauer Güte in mir weckt. 

 
 
 

Ich bin dann an diese Grenze gefahren. Aus fotografischer Neugier und ein wenig aus einer konfrontationstherapeutischen Idee heraus. Ich wollte wissen, wie es dort aussieht. Wie leben die Menschen dort als Nachbar des russischen Bären. Wie fühlt es sich, diesem Land nah zu sein, dessen Regierung zurzeit die ganze Welt in Atem hält. Einmal dem Monster unter dem Bett in die Augen sehen. Kalter Krieg Redux.

 
 
 
 
 
 
 
 

Ich fand eine überraschend unaufgeregte Atmosphäre vor. Die Natur, wie versprochen, wunderschön. Rau. Im Oktober gibt sie sich frühwinterlich. Das Wetter wechselt manchmal im Minutentakt.

Ich sehe es der Landschaft nicht an, dass sie geteilt ist. Dass wir hier stehen und die auf der anderen Seite. Nur einen Steinwurf entfernt, - welcher verboten ist. An manchen Stellen wirkt alles zum Greifen nahe. Wenn man es weiß, sind Russlands Berge und Wälder auf den Szenerien immer irgendwo im Hintergrund zu erkennen.

Manchmal stehe ich einfach nur da und schaue Richtung Bäume, Felsen und auf den geteilten Fluss. Mir kommen Gedanken über das Konzept von Grenze in den Sinn. Die Vegetation ist dieselbe auf beiden Seiten. Die Natur macht keinen Unterschied zwischen hier und dort, Menschen tun das. Grenz-Erfahrung im wörtlichen Sinn.

 

Selbst ohne diese Grenze wäre es eine außergewöhnliche Gegend. Das bloße Wissen um die geografische Lage, das arktische Licht und die wunderschöne Natur wirken beruhigend. Das Atmen fällt mir hier wieder leichter. 

 
 
 

Sieht man sich die scheinbar unberührte Natur jedoch genauer an, erkennt man immer wieder, wo der Mensch Hand angelegt hat. Im Wald eingebettete Grenzpfosten auf beiden Seiten des Flusses Jakobselva, die sich stets gegenüberstehen. Eigenartige graue Kästen und Antennen an Wanderwegen. Auf Bergen thronende Wachtürme kurz vor der Mündung in die Barentssee. Eine Tafel für Wanderer im Grenzgebiet informiert über „Soldaten mit kräftigen Ferngläsern“. Ich kann sie im Rücken spüren.

 
 
 
 
 
 
 

Am Ende des Schotterweges entlang der Grenze, komme ich zu einer kleinen Siedlung an der Mündung zur Barentssee. Grense Jakobselv. Sie besteht aus einigen Häusern entlang des Flusses, manche sogar bewohnt und freien Blick auf Russland hinter dem Haus. Wenn ich mal Menschen treffe, winken sie einem freundlich zu. König Oskar II. hat dort im 19. Jahrhundert, eine zur Befriedung der Völker erbaute Kapelle besucht. Seitdem trägt sie seinen Namen. 

 
 
 
 

Um sie besser sehen zu können, klettere ich, vermutlich unter der Beobachtung der Wacheinrichtungen beider Länder, den Felsen hinter der Kapelle hoch. Ich kann von da oben den alten Elektrozaun der Sowjets aus dem Kalten Krieg sehen. Ich muss an die Ereignisse von 1968 denken, wo sich hier Szenen abspielten, die 30 Jahre geheim blieben. Eine Handvoll norwegischer Offiziere stand hier plötzlich und ohne Ankündigung ca. 10000 russischen Soldaten, 300 Panzern und 4000 Fahrzeugen gegenüber, welche fast einen verheerenden Krieg mit der NATO provozierten. Hätte ich dort an gleicher Stelle von einem Jahr gestanden, hätte ich das als „nur eine alte Geschichte“ abgetan. Das ist heute anders. 

 

Ich sehe von da oben zwei Wachtürme und zwei Kapellen. Vor und hinter mir. Jeweils zwei Gebäude, die für den Glauben an etwas stehen. Gleiches Prinzip, aber doch anders. Der Ausblick auf die Brandung der Barentssee beruhigt mich. Die Landschaft drumherum ist wunderschön. Ich denke nach und spüre, dass dieser Ort, mit all seinen Bedeutungen und Andeutungen, ziemlich genau dem Grund für meine Reise entspricht. Ich genieße die klare Sicht auf die Welt und die kalte, frische Luft zum Atmen.

Auf einmal entwickelt sich ein Regenbogen, der sich langsam aber stetig mit dem Näherkommen einer Regenfront von der norwegischen Seite, rüber zur russischen beugt. Der Moment wirkt übertrieben romantisch, als das Ende des Regenbogens die kleine Kapelle am russischen Ufer berührt. Ich kann mir ein Grinsen, ob der Symbolik nicht verkneifen. Ich schaue zum Wachturm hinter mir hoch. Ob die Soldaten das auch gerade sehen?

 
 

Ich fahre nach Kirkenes. Eine Kleinstadt mit ca. 3500 Einwohnern, ca. 400 km nördlich des Polarkreises. Obwohl diese Stadt eher die Einwohnerzahl eines Dorfes hat, wirkt sie groß. Es gibt Einkaufszentren, große Hotels und Gastronomien, eine Künstlerszene und einen relativ großen Flughafen. Kirkenes ist ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt für die Polarregion. Wirtschaftlich, touristisch und kulturell. Das spürt man in dieser Stadt. Sie wirkt keineswegs provinziell. 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Ich treffe wenige Menschen. Vereinzelt höre ich, wie Russisch gesprochen wird. Es leben mehrere hundert Russen in Kirkenes. Es gibt russische Verkehrsschilder und ein Denkmal, das an die Befreiung durch die Rote Armee 1944 erinnert. Das Generalkonsulat der Russischen Föderation liegt mitten im Ort, direkt neben dem Rathaus. Ich bin oft um das Haus herumgelaufen, immer ein wenig besorgt, ich könne jemanden verärgern. Der Kameras an der Hauswand sehr bewusst. Es ist ein Symbol für ein Regime und gleichzeitig ein Zuhause für Menschen, - russischer Boden. Diese Dualität fasziniert mich. Die russischen Vertreter und die Einwohner Kirkenes haben früher gemeinsam Feiertage begangen und an Projekten zur Völkerverständigung gearbeitet. Aber es ist wohl schwieriger und ruhiger geworden in den letzten Monaten.

 
 
 

Meine innere Uhr fängt schon kurz nach Mittag an, mich auf den Abend vorzubereiten. Die Polarnacht kündigt sich zwar schon an, ist aber noch sechs Wochen entfernt und auch die Temperatur ist, mit ihren um die null Grad, noch nichts, was die Menschen hier zu beeindrucken scheint. Ich sehe Kinder auf Fahrrädern durch die ganze Stadt fahren, oder auf Spielplätzen im Schneeregen spielen. Ich denke daran, dass es hier wahrscheinlich keinen Sinn macht auf besseres Wetter zu warten, um draußen zu sein. 

 
 
 
 
 

Fährt man von Kirkenes aus Richtung Südosten, beginnt gleich am Ausgang der Stadt die E105. Die Straße führt nach Murmansk, St. Petersburg und Moskau. Sie endet in Jalta, auf der Krim. Das E steht für Europastraße. 

Ich erreiche den Grenzübergang Storskog nach ca. 20 Minuten Fahrt. Es ist sehr ruhig dort. Keine Autoschlangen von ausreisewilligen Russen zu sehen. Ich habe gelesen, viele Russen wüssten gar nichts von dem Grenzübergang ins NATO-Land Norwegen. Ich sehe Autos kommen und gehen. Russische wie norwegische. Anders als am Fluss ist die Grenze hier so, wie man sie erwartet und kennt. Hinweise auf das Ende vom Schengenraum, Zollgebäude und Schlagbäume. 

Ein verlassenes Fahrrad liegt im Gras und eine Tafel für Informationen ist leer.

 
 
 
 
 
 

Ich lerne Ørjan kennen. Er ist der Inhaber des Souvenirladens direkt am Grenzübergang. Man kann dort Matrjoschkas und Stalin Plaketten kaufen. Ich kaufe zwei Holzpuppen und einen RUSSIA Aufkleber für mein Auto. Ich werde ihn wohl eher nicht benutzen. Freundlich und lächelnd verpackt er meinen Einkauf und schließt den Vorgang gewissenhaft mit einem Firmenstempel auf der Papiertüte ab. Ørjan und ich kommen ins Gespräch über die Geschichte der Region. Er erklärt mir wie im Zweiten Weltkrieg, aus finnischen Gebieten Russland wurde. Lacht mich herzlich aus, als er mir unter die Nase reibt, dass er mit Holz heizt und nicht mit russischem Gas. 

 
 

„Anders als früher? Die sind weniger arrogant als früher!“, antwortet er. „Siehst du das Fahrrad da drüben, das liegt da seit Wochen. Früher wäre das schon längst Richtung Russland verschwunden.“ Ich schaue ihn fragend an. Es sei das Resultat aus der Härte, die den Russen von der NATO entgegnet wurde. Seine Erfahrung aus über 30 Jahren Leben und Arbeiten an der Grenze zu Russland sprechen aus ihm. Es sei eben deren Sprache. Härte demonstrieren. 

Im Laufe des folgenden Gesprächs über den großen Nachbarn und internationale Außenpolitik finde ich heraus, dass er keine Angst hat. Die NATO bräuchte nur einen Nachmittag, dann wäre die russische Armee Geschichte. Und dann fällt irgendwann der Satz: „Die verstehen nur Blut und Waffen.“

 
 

Ich verabschiede mich, auch bei seinem Hund, der an den Resten eines Rentieres nagt und fahre wieder zurück in die Stadt.

Es wird langsam dunkel. Kirkenes ist keine Schönheit. Aufgrund der strategischen Lage war die Stadt nach Malta das häufigste Ziel alliierter Bombenangriffe.
Trotzdem, vor allem wenn es dunkler wird, kommt der Charme der Stadt zum Vorschein. Sie wirkt einladend und ich habe das Gefühl, man kann hier gut leben. In der beginnenden und langanhaltenden Dämmerung sehe ich eine russische Familie Königskrabben am Pier angeln. Ich sehe, wie sich die Frau mit der ersten Krabbe in einer Plastiktüte auf den Weg macht. Vermutlich fährt sie nach Hause, um sie zuzubereiten. Ich versuche, mit dem Mann ins Gespräch zu kommen. Aber wir sprechen nicht die gleiche Sprache. 

 
 
 
 

Fischfang, Tourismus und Werftaufträge. Russische Kunden sind in Kirkenes eigentlich ein wichtiger Teil des wirtschaftlichen Rückgrats. Ich kann mir vorstellen, dass sich viele hier Sorgen machen um die Zukunft.

 

Ich laufe durch die Straßen und komme noch mal am Konsulat vorbei. Es ist bereits dunkel und ich kann durch die Fenster sehen, wie sich Menschen im Inneren bewegen. Ich frage mich, was sie denken und wie sie sich auf ihrer Insel fühlen, mitten im Gegenteil von dem, wofür ihre Führer stehen. 

 
 

Ganz in der Nähe ist die Stelle, an der mich am ersten Tag die Polizei aufgegabelt hat. Jemand hatte sie gerufen, als ich gerade mal 30 Minuten unterwegs war. Drei junge Männer in Uniform, freundlich und Autorität ausstrahlend. „Wir kontrollieren sie, weil die Situation zurzeit etwas angespannt ist.“ Höfliche, aber eindringliche Fragen. Wie lange bleiben sie? Wo wohnen sie? Wie sind sie angereist? Was fotografieren sie?

 
 

Einer der drei Polizisten gab mir dann meinen Ausweis wieder. „Es gibt hier besondere Regeln für das Fotografieren für russische Staatsbürger, die dürfen zum Beispiel keine Drohnen steigen lassen, aber sie sind ja offensichtlich aus Deutschland.“ Erst später lese ich von dem Vorfall auf Spitzbergen, der mir im Nachhinein Klarheit bringt. 

 
 
 

Wieder im Jetzt treffe ich noch mehrmals auf die Kinder auf ihren Fahrrädern. Auf dem Friedhof, am Einkaufszentrum und in der Fußgängerzone. Einer macht einen Wheelie auf seinem Mountainbike. Sichtbar stolz und mit Lolli im Mund.

 
 
 
 
 
 

Als ich am nächsten Morgen im Flieger in Richtung Oslo sitze und unter mir Kirkenes, die Fjorde und die Berge sehe, fällt mir auf, dass ich von hier oben nicht erkennen kann, wo das eine Land aufhört und das andere anfängt. 

Ich fange schon an, es zu vermissen. Dieses Gefühl von Abgeschiedenheit und echter, wilder Natur. Das Licht und die Ruhe.

Das russische Pärchen neben mir, deren Sprache ich nicht spreche, lächelt mich herzlich an, bevor beide einnicken.

Ich muss noch einmal an den Regenbogen an der Mündung denken, und lasse dann Russland hinter mir.